Vorbemerkung des deutschen Übersetzers
Die Übersetzung der pädagogischen Fachbegriffe und die Interpretation einer knappen Zusammenfassung der hinter Moodle stehenden pädagogischen Konzepte von Martin Dougiamas fällt nicht leicht. Daher möchte ich versuchen, mit eigenen Worten eine Adaption auf den deutschen Sprachgebrauch vorzunehmen, und meine Übersetzung des Originaltextes anfügen.
Das Modell des 'Nürnberger Trichters' als Grundlage für Lernprozesse ist endgültig zu den Akten gelegt. Heute können wir davon ausgehen, dass Lernen in einem aktiven Aneignungsprozess mit einem immer wiederkehrenden Abgleich zwischen vorhandenen Erfahrungen und neuen Informationen erfolgt. (Theorie des Konstruktivismus)
Wirkungsvolle Lernprozesse müssen daher Anreize bieten, neue Erfahrungen zu machen und Informationen aktiv anzuwenden. In der aktiven Anwendung und - besser noch - der eigenen Vermittlung neuer Informationen als Teilnehmer/in an andere liegen besonders gute Lernpotenziale.
Moodle versucht nun eine Lernumgebung zu schaffen, in der die Interaktion der Lerngruppe einen hohen Stellenwert besitzt. Die Diskussion miteinander, die Auseinandersetzung mit Aufgaben und die gegenseitige Bewertung (z.B. im Workshop-Modul in der Form des peer assessment), aber auch die Möglichkeit aus Einschätzungen und Kommentaren dazu zu lernen und eine Aufgabe in einer verbesserten Version wieder einzureichen sind zentrale Möglichkeiten einen Lernprozess zu gestalten.
Moodle kann - daran darf es keinen Zweifel geben - als klassische 'Pauk-Maschine' oder als 'Online-Frontalunterricht' genutzt werden. Sein besonderes Augenmerk gilt aber der fortgeschrittenen und zielgerichteten Interaktion als Lernprozess.
Zentral ist dabei eine Veränderung der Rolle des/der Dozent/in vom Wissensvermittler hin zum Lernbegleiter. Im angelsächsischen Sprachgebrauch (nicht von Martin Dougiamas) wird der Begriff des Facilitators verstärkt genutzt. Seine Aufgabe ist es, einen Handlungsrahmen zu schaffen, in dem eine lern- und entwicklungsförderliche Umgebung besteht, die ein entdeckendes und aktives Lernen ermöglicht.
Rückfragen an den Übersetzer unter ralf.hilgenstock@dialoge.net.
Übersetzung des Originaltextes
Die Gestaltung und Entwicklung von Moodle wurde geprägt von einer Lernphilosophie, einem Weg des Denkens, den man vereinfacht als "sozial fördernde Pädagogik" bezeichnen kann. (Einige unter Ihnen werden "Hokus-Pokus-Pädagogik" denken und wegklicken wollen, aber lesen Sie bitte weiter!)
Diese Seite versucht, Ihnen mit einfachen Begriffe die vier Hauptkonzepte zu erläutern, die dahinter stecken. Jedes Teilkonzept fasst die Ergebnisse umfangreicher Forschungsarbeiten zusammen. Zwangsläufig muss daher diese kurze Beschrreibung oberflächlich bleiben.
Wenn diese Konzepte für Sie gänzlich neu sind, mag es sein, dass das eine oder andere zunächst etwas schwer zu verstehen ist. Als kleiner Tipp hilft es Ihnen vielleicht, dass Sie beim Lesen über Ihre eigenen Erfahrungen beim Lernen nachdenken.
1. Lernen durch Entwicklung (Constructivism)
Diese Betrachtungsweise geht davon aus, dass Menschen ihr Wissen aktiv aus der Interaktion mit ihrer Umgebung entwickeln.
Alles, was Sie lesen, sehen, hören, fühlen und berühren - also mit Ihren Sinnen wahrnehmen - wird mit Ihrem früheren Wissen verglichen und in Ihre Vorstellung und Erklärung der Welt eingebaut. Daraus kann neues Wissen entstehen, das Sie mit sich nehmen. Wissen wird verstärkt, wenn es sinnvoll in anderen Situationen angewendet werden kann. Menschen sind keine passiven Informationsdatenbanken, die alles in sich aufnehmen. Genausowenig kann Wissen durch einfaches Lesen oder Hören übertragen werden.
Damit sei nicht gesagt, man könne durch das Lesen einer Webseite nichts lernen. Natürlich kann man das. Es findet jedoch eine Interpretation des Gelesenen vor dem Hintergrund der vorhandenen Erfahrungen statt. Das uralte Modell des 'Nürnberger-Trichters' funktioniert so nicht.
2. Lernen durch Vermittlung (Constructionism)
Konstruktionismus behauptet, dass Lernen besonders effektiv ist, wenn der Lerninhalt für andere aufbereitet - also aktiv angewandt wird. Dies kann durch einen gesprochenen Satz oder einen Diskussionsbeitrag erfolgen, oder anspruchsvoller durch die Erstellung eines Bildes, eines Hauses oder einer Software erfolgen (aktiv wiedergeben statt passiv konsumieren).
Sie können - zum Beispiel - diese Seite mehrere Male lesen und werden vieles bis morgen schon wieder vergessen haben. Wenn Sie aber versuchen, die hier formulierten Ideen, einem anderen mit eigenen Worten zu erklären, eine Präsentation darüber erstellen, dann kann ich ganz sicher sein, dass Sie ein besseres Verständnis aus diesen Ideen entwickelt haben. Das ist übrigens auch der Grund, aus dem Menschen sich während der Übungen Notizen machen, selbst wenn sie diese später nicht wieder lesen.
3. Lernen durch soziale Entwicklung (Social Constructivism)
Stellen wir uns diese Gedanken nun innerhalb einer Gruppe vor, die sich eine Kultur gemeinsam geteilten Wissens und gemeinsamer Bedeutungszusammenhänge erarbeitet. Wenn man einmal in diese Gruppe eingetaucht ist, lernt man kontinuierlich auf verschiedenen Ebenen.
Ein sehr einfaches Beispiel ist ein Gegenstand wie z.B. eine Tasse. Die Tasse kann für sehr viele Zwecke genutzt werden. Aber seine Form ermöglicht es uns, einiges über das Transportieren von Flüssigkeiten in Erfahrung zu bringen. Ein komplexeres Beispiel ist ein Online-Kurs. Er wird nicht nur so verwandt, wie die Entwickler es sich vorgestellt haben. Die praktische Arbeit mit den einzelnen Elementen schafft Ideen für einen erweiteren Gebrauch und damit eine neue Wirklichkeit und neue Möglichkeiten. Dies passiert besonders häufig dann, wenn nicht nur einzelne, sondern Gruppen zusammen mit der Software arbeiten.
4. Verbunden und aufgeteilt (Connected and Separate)
Dieser Gedanke befasst sich näher mit den Motiven der Einzelnen innerhalb von Diskussionen. 'Aufgeteiltes' Verhalten liegt vor, wenn jemand versucht, objektiv zu bleiben und Fakten darzustellen. Er/sie wird dazu tendieren, die eigenen Ideen zu verteidigen und Lücken in der Argumentation der anderen zu entdecken. 'Verbundenes' Verhalten stellt mehr ein empathisches Verhalten dar, das Subjektivität einbezieht, versucht zuzuhören, Fragen zu stellen in der Absicht, den anderen zu verstehen. 'Entwickeltes (constructed) Verhalten beide Annäherungen an einen Gegenstand nutzen kann und in der Lage ist, die geeignete Form in der jeweiligen Situation auszuwählen.
Das gemeinsame Verhalten ist starker Anreiz für den Lernprozess. Er bringt nicht nur die Teilnehmer näher miteinander in Kontakt, unterstützt eine tiefere Reflexion und fördert die Überprüfung bestehender Annahmen.
Wenn Sie über all dies nachdenken, dann hilft es Ihnen, sich auf die wichtigsten Lernerfahrungen aus der Lernersicht zu konzentrieren und nicht nur die Informationen zu vermitteln und zu bewerten, von der Sie denken, dass sie gewusst werden sollten. Es kann ebenfalls hilfreich sein, darüber nachzudenken in welcher Weise jede/r Teilnehmer/in gleichermaßen Lerner und Lehrer sein kann. Ihre Aufgabe als Dozent/in kann sich dabei wandeln von der "allwissenden Informationsquelle" hin zu einem Vorbild, das den Teilnehmer/innen ermöglicht, ihren eigenen Lernbedarf zu erkennen, das Diskussionen moderiert und das durch Übungen die ganze Gruppe zu ihren Lernzielen führt.
Moodle alleine schafft diese Lernsituation nicht, aber Moodle unterstützt sie besonders effektiv. In der Zukunft, wenn die technische Basis von Moodle stabil ist, wird sich die weitere Entwicklung von Moodle auf die pädagogische Unterstützung dieses Prozesses konzentrieren.
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